Hamburg (16.12.2022) Nicolaas Schmidt hat am Freitagmorgen völlig überraschend einen kompletten Umbau seiner Selbst angekündigt. Wichtigste Maßnahmen: Erstens, das Aus für alle laufenden Arbeiten und Webprojekte inklusive ENDJOY.org, 36KFRGB, FLICKER 3D, 1KPM und auch LEAS – sein LIFE EVIDENCE ARCHIVING SYSTEM. Zweitens, der Konzeptkunst- und Performance-Bereich wird abgespaltet. Nicolaas Schmidt will aber weiterhin ETERNALTREND, das EndJoy-System und die zugehörige Gruppe pflegen und dieses zu gegebener Zeit an Interessierte lizenzieren.
Die Konzeptkunst- Installations- und Performance-Sparte hatte im letzten Jahr einen Akzeptanzwert von 1. Das waren 65 Prozent weniger als im Zeitraum zuvor. Den größten Einbruch gab es bei Instututionsakzeptanzen. Hier ging der Wert um 83 Prozent zurück. Die Zusammenarbeit mit den früheren Kollegen der Band THERNST hatte er bereits 2018, kurz vor Erscheinen des ersten Albums abgebrochen.
Nach dem jetzt geplanten Spin-Off verbleiben bei Nicolaas Schmidt noch der Foto- und Kinofilmbereich sowie die zuvor schon auf Eis gelegten TV-Entwicklungsabsabsichten inklusive der ENDJOY Sunset Live-Show, der Zehn-Sekunden-Animationsserie für Säuglinge „Proemmels – Cuties without Fur“, angedachte Lindström- und Traumschiff-Engagements, dann noch die ETERNALTREND LAB Platform, sein ruhendes Engagement bei VETOFILM sowie ein Instagram- und Facebook-Account.
Die Meldung über die dramatischen Änderungen an seiner Lebensroute ging einher mit der Ankündigung, dass Schmidt sich künftig auf Genesung, Liebe, Familie und seine Rolle als Vater konzentrieren möchte, und endlich mehr seine Ehefrau, die Autorin, Dramaturgin und Produzentin Anne Döring, bei ihren Projekten unterstützen will. Ihre aktuelle gemeinsame Arbeit CINEMOON und ihr in Entwicklung befindlicher Spielfilm werden von dem Umbau daher eher provitieren.
Schmidt meint, er sei ohnehin nicht mehr willens auch zu Haus ständig darum kämpfen zu müssen in all seiner Negation zum Kunstmarkt dennoch als „Künstler” ernst genommen zu werden. Er wolle „für Riolino lieber am Kinderbuch mit den ‚Proemmels‘ weiterarbeiten, mit ihm ‚Voyage Voyage‘ im Eternal-Loop tanzen, Laubblätter beim Rascheln bestaunen, zum Sunrise dösen […]“. Und auch seiner Leidenschaft zu den Tieren wird sicher mehr Zeit zur Verfügung stehen. So engagiert er sich seit 2020 u.a. ehrenamtlich in der von ihm ins Leben gerufenen Charity Group „Hummel Hilfe Hamburg“.
Tim Slim, langjähriger Freund in Hamburg und/oder Berlin: „Ein mutiger Schritt von Nicolaas, mit dem er die Kunst und Musik wohl nun endgültig abschließt. Er will jetzt konsequenter den Pfaden seiner Idole Christoph Schlingensief und Vicco von Bülow folgen. Die andauernde Stagnation bei den Views seiner YouTube-Serie ‚36000 FRAMES RGB‘ hatte er nie gut verarbeitet. Die fortlaufenden Stressphasen, seit seiner Erkrankung 2018, gefolgt von Corona-Pandemie und anschließend der eigenständige Festivalvertrieb für seinen mittellangen Film ‚FIRST TIME‘ – bei ausgefallenen Festivalbesuchen waren sicherlich die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten.“
Die Krabbelgruppe seines Sohnes Riolino Puttopino: „Ein mutiger Schritt von Nicolaas Schmidt, mit dem er der Konzeptkunst mindestens vorerst den Rücken kehrt. Er wird sich jetzt Hilfe bei ExitArt der Hilfsorganisation von Felix Thiele suchen.“
Ray Juster, Freund, Kollege und Nachbar seit Studienzeiten: „Traurig, ehrlich, womöglich nötig. Konsequent und rührend, vielleicht etwas zu ehrlich. Ein grauer 13. Freitag für unser buntes Europa.“
„Mit seinem faszinierenden und synästhetischen Zusammenspiel von Bild und Ton ist INFLORESCENCE ein einzigartiges filmisches Experiment.“
FBW-Pressetext
OMG, das ist nun doch ne Überraschung! Meine erste Erfahrung mit der Filmbewertung Wiesbaden im Jahr 2018 sollte ja eigentlich auch die letzte sein. Unfassbar widersprüchlich und dadurch irritierend oberflächlich naiv, geriet deren erste Begründung meines Films „Final Stage [The Time for All but Sunset – BGYOR]“. Der Versuch des zweiten Gemiums (natürlich abermals kostenpflichtig), geriet dann klarer und widersprach an vielen Stellen gar der ersten Juryauffassung. Doch die Investition in die Prüfungsgebühren für diese eigene FBW-Erfahrung, die letztlich nur wie erwartet geriet, war dann halt doch nicht gerechtfertigt.
Bei der Entscheidung nun doch auch meine letzte Arbeit „Inflorescence“, ein Dauerloop, der FBW vorzulegen mag mir der ‚Schalk im Nacken gesessen haben‘. Letztlich war nur die Neugier zu groß, erfahren zu wollen, wie irgendeine Begründung dazu aussehen würde, und natürlich war auch die günstigere Gebühr für nur 8 Minuten ausschlaggebend. Doch dann…
„Sicher, die Redundanz hat Witz, aber bei längerem Nachdenken lässt sich bemerken, dass Schmidts Kurzfilm durchaus auch Tiefe besitzt. Ein langes Schweigen hat die Diskussionsphase zunächst eingeleitet.“
Inflorescence-Begründung FBW
„INFLORESCENCE ist gnadenlos und zerstört Hoffnungen auf Veränderung. Und dennoch ist INFLORESCENCE motivierend.“
Inflorescence-Begründung FBW
„Schmidts Filmexperiment steht eindeutig nicht für eindeutige Antworten.“
Inflorescence-Begründung FBW
Es scheint also, wie etliche Kollegen seit jeher meinen, zu stimmen: Die Gremienzusammensetzung der „sog. Filmbewertung” stellt sich gewagt offen dar. Diesmal nun scheint es, waren halt einfach mal qualifizierte (oder motivierte) Kräfte am Start die auch bereit waren mal ‘länger nachzudenken’. Aber wenn man Pech hat halt nicht. Eine derartig objektivitätsbefreite Beliebigkeit sollte keinerlei Rolle spielen im Filmfördersystem, geschweige denn eine Gebühr als Voraussetzung haben dürfen. Ein guter Freund erhielt mal als Begründung für eine Ablehnung: ‘Dieser Film wird bei seinem Publikum sicherlich viele Fragen aufwerfen’. Mehr Beweis für ein mindestens merkwürdiges Verständnis von Kunst geht ja nicht – einem Werk vorhalten, dass es Fragen und keine Antworten liefert. Und was soll dieses ‘sicherlich’? Im Zweifel will man das Publikum nicht überfordern und schützt es mal lieber vor derlei Anforderung? „Inflorescence“ wäre bei dieser Jury dann auch eindeutig durchgefallen. Ob ich mich also jemals nochmal auf dieses überteuerte Glücksspiel einlassen werde ist zu bezweifeln. Das Gefühl diesmal jedenfalls: Wenn Pessimismus eine Umkehrung erfährt – so selten und unbezahlbar! Allerdings nun nicht mehr wiederholbar.
Nach dem Screening meiner Arbeit “Inflorescence” im Berlinale Shorts Programm, irgendwann Februar 2020, fragtest du leicht aufgebracht warum sowas auf dem Festival laufe?” Du könntest schließlich auch einfach was filmen und Musik darunter legen.
Gewiss mag ich deinen Kommentar provoziert haben indem ich im Interview zuvor bewusst didaktische Erklärungen verweigerte und allzu eindeutigen Interpretationen der Moderation mit persönlichen Annekdoten auswich. Ich mag meine Sachen lieber maximal offen und sehe es nicht als meine Aufgage denen duch Verweise auf z.B. aktuelle Ereignisse nachträglich Relevanz zu verschaffen.
Meine Produzentin, die mit auf der Bühne war verwies nach deiner Bemerkung mit einer Geste lapidar auf die Leinwand hinter uns. Ich fand diesen kleinen Verweis auf das Kino zwar nen guten und angemessenen Move, aber gern wollte auch ich dir direkt ausführlich antworten. Jedoch etwas anders als die ebenfalls anwesende Sektionleitung, die nach Ende des Programms spontan auf die Bühne ging und die Aufnahme des Films ins Programm noch rechtfertigte. Das irritierte uns und beschäftigt mich bis heute.
Was ich dir antworten wollte wenn wir noch Zeit dafür gehabt hätten, wäre in etwa dies gewesen:
Ja klar, mach das doch. Dann solltest du aber auch noch ein ehrliches Gespür dafür entwickeln müssen, ob deine Komposition auch mehr sein kann als die Summe der Einzelteile, ob Betrachter*rinnen, darin selbst eigene Gedanken entwickeln können, ganz aktiv oder auch positiv passiv teilhaben können, indem sie z.B. inspiriert werden, eine Leidenschaft vor und/oder während des Entstehungsprozesses spüren können oder irgendeine Form von Genuss durch z.B. Überwältigung oder Abdriften und Eintauchen empfinden können. Das ist allerdings gar nicht so einfach einzuschätzen, aber doch nötig, denn den Aufwand von Detailarbeit wie Farb- und Soundmischung, die jedoch dann schon auch noch nötig, aber eben leider wesentlich zeitaufwendiger und kostenintensiver ist, als eine fixe Idee zu haben, kannst du nicht für Alles pauschal betreiben, ebenso nicht Aufwand und Kosten um jedes Video einfach bei Festivals mal einzureichen. Aber Insta Reels mit Musik sind heute ja super schnell gemacht, da gibts unendlich viele tolle Sachen – da kannst du tatsächlich einfach und billig abliefern.
Und falls du das echt als Frage gemeint hattest: Also klar, bitte, mach das unbedingt. Wenn du was kreativ zu verarbeiten hast oder musst, gibts nichts besseres. Es tut gut etwas in die Welt zu schmeißen und mit Menschen, darüber zu reden und so evtl. sogar Gleichgesinnte zu finden. Als ich anfing Kunst zu studieren hatte ich auch Bedenken der Art: Es gibt genug Scheiß da draußen, warum brauchts da noch den Meinen? Diese Einstellung hatte ich ne ganze Weile durchgezogen und meine Sachen nur für mich in der Schblade behalten. Aber das zieht nur runter und man bleibt allein damit. Also einfach machen! Und dann steht es dir frei, das auch bei Festivals einzureichen, deren Gebühren zu zahlen, dort anzureisen, sich spannenden Publikumsfragen zu stellen, oder auch kritischen Kommentaren. Di h nicht unterkriegen zu lassen und darauf dann dennoch weiterzumachen… Irgendwann klappts dann vielleicht auch mal mit Berlinale. Warum im einzelnen genau, bleibt dann mitunter leider dennoch die Frage. (Das ist dir jedoch dann jedoch vielleicht längst egal.)
Also, falls es dir genau so geht wie mir damals, velleicht hilft dir noch folgender Hinweis meinerseits: Ich selbst sehe mich bis heute weder als richtiger Künstler, noch als Filmemacher, eher als ne Art Kuschel-Trance VJ. Nimm dein Zeug und dich selbst nicht zu ernst, dann kannst du das entspannt zeigen (lassen).
Berlin Schönefeld – Flug nach Glasgow fällt aus. Ich danke Wiebke Weckbrodt für die Organisation der Alternative: Edinburgh Airport – Sanne Jehoul, Guest Manager, berät engagiert per SMS über Busverbindung nach Glasgow, sind zwei Stunden in Verzug. Der Bus startet exakt zur Golden Hour. Ich freue mich nachträglich über den Ersatzflug, die Gelegenheit schottisches Land und die ersten Strahlen einer Frühlingssonne entspannt erfahren zu können (draußen ist es noch zu kalt und die Fenster meiner Hamburger Parterre-Wohnung bekommen durch eine ungünstige Baumkonstellation davor, nur wenig Strahlen ab). Wir fahren auf geschlungener Strecke der Sonne entgegen, mal scheint sie links mal rechts herein. Der Bus ist fast leer, so ist es kein Problem öfter die Sitzseite zu wechseln. Nach einer Stunde dann: Glasgow Sunset. Das Festival hat uns im Victoria Hotel untergebracht. Man ahnt den Luxus vergangener Zeiten – sehr charmant, I like. Obergeschoss, bis zum Boden reichende Erker-Fenster gen Süd-West – perfekt. Erschöpft schlafe ich sofort ein, verpasse dadurch leider nun doch Sven Schwarz mit dem „Black&Light“ Programm, das ich im Vorfeld bereits fett markiert hatte.
Das Hotel befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Art School und den beiden Spielstätten des Festivals: das Glasgow Film Theatre und das Centre for Contemporary Arts in dem sich auch das Festivalzentrum eingerichtet hat. Der Info-Schalter ist ständig mit freundlichen Menschen besetzt, es gibt WiFi und jeden Abend eine Stunde Umtrunk für/mit alle/n, Gelegenheit für Gespräche, Kennenlernrituale…
Das erste Screening meines Films „Autumn“ am Freitag Abend ist wenig besucht, das mag eventuell am vorherigen St. Patricks Day liegen. Die Wiederholung Sonntag Mittag fast ausverkauft, bei Sonnenschein – interessant. Die Gespräche finden jeweils zusammengefasst am Ende des Programms statt. Am Ausgang sprechen mich, dank meiner kleinen Performance, einige Zuschauer an, ich verteile Autumn Pocket Posters.
Wegen der ersten hellwarmen Sonnenstrahlung kann ich nicht alle Filmprogramme sehen, aber die von mir besuchten finde ich durchweg gelungen – mutig, experimentell, interessant, richtig. Es gibt auch einige Sonderprogramme wie z.B. das mit Filmen von Jan Soldat und das großartige „Bleeding Edge“ Virtual Video Programm, kuratiert von Matt Lloyd. Auch besuche ich eine Art Podiumsdiskussion über Filmvertrieb mit Schwerpunkt TV. Einige Filmemacher stellen dabei später Ausschnitte ihrer Filme zur Diskussion/Bewertung. Die Veranstaltung bekommt dann auch durchaus DSDS Charakter. Statements wie „a bit too poetic“ oder „not clear what this is about“ stimmen mich ein wenig traurig. Irgendwann kommt dann auch die Problematik „Prätentiös vs. Art“ auf…
Intensiviert Trink/Talk/Tanz kann man Samstag Abend auf der großen Festivalparty betreiben. Das Ganze findet in der etwas entfernter liegenden Glue Factory statt. Zusammen mit Ananda Pellerin und Patrick Buhr, dessen wunderbaren Film „Something About Silence“ ich eben entdeckte, begebe ich mich auf den Weg dorthin. Etwas früh dran schaue ich mir noch die dort ebenfalls installierte Ausstellung „Cinema of Transgression“ an, treffe auf Jan Soldat und lerne ihn näher kennen. Ich mag ihn ganz gern. Wir erwarten das Highlight, die Performance von Lydia Lunch. Später stellt er mir/mich noch einige/n Menschen vor. Zusammen mit Christoffer Olofsson und John Canciani treten wir den Rückweg zur Unterkunft an. Dabei unterqueren wir Europas meistbefahrene innerstädtische Autobrücke – heftig.
Am Abreisetag holt uns Festivalfahrer Colin Campbell vom Hotel ab. Die Sonne ist bedeckt von Wolken, so fällt es mir heute ein wenig leichter den Platz am Zimmerfenster zu verlassen. Wir fahren zum Flughafen, meine Anspannung steigt. Nach wenigen Metern steigt auch noch Stine Wangler von der Kurzfilmagentur Hamburg hinzu – it’s a small world/scene.
Zusammenfassung: Top! (Filme, Atmosphäre, Rahmenprogramm, Service, Hotel, Essen, Menschen, Stadt, Wetter) Ich kann die Reise zu diesem sympathischen Festival nur empfehlen.
Marlene meinte einmal, in Osteuropa sei man an experimentellen Filmen mehr interessiert, weil die Zeit dort 20 Jahre hinterher ist. Aber wer will schon gerne „hinten“ sein? Andererseits kenne ich so einige, die immer in der „zweiten“ oder gar letzten Reihe sitzen wollen. Können Menschen bzw. Strukturen nicht offener sein bzw. bleiben wenn sie „vorn“ sind?
12. September 2012: Ich fliege von Hamburg über München nach Sofia. Ich bin gespannt auf Bulgarien, war noch nie dort – Neugier besiegt Flugangst. Dem Landeanflug auf Sofia mit heftigen Turbulenzen folgt ein entsprechender Erschöpfungszustand, doch die Reise ist noch nicht zu Ende. Ich fahre mit dem Taxi zum Busbahnhof, im Radio läuft Talk Talk, R.E.M., Madonna, Snap! Die anschließende Busfahrt zur zweitgrößten Stadt Bulgariens wird circa zwei Stunden dauern. Der Fahrer hört leise Musik: Roxette, Scorpions, Phil Collins, … – keine News, keine Reklame, CD? Gegen sechs komme ich am Zentrum für zeitgenössische Kunst an – ein altes, noch im Original erhaltenes Gebäude aus der Ära der Nationalen Wiedergeburt, wie mir Evelyn vom Festivalteam erklärt, gleich nachdem sie mich begrüßt hat. Dann zeigt sie mir noch das Apartment in der oberen Etage, wo ich die nächsten paar Nächte und Morgenstunden verbringen darf. Bei der Eröffnungsveranstaltung um 20 Uhr treffe ich auf den Rest des Teams, andere Filmemacher und unglaublich offene, interessierte Besucher. Die Screenings finden Open Air statt, auf einem antiken Platz namens Lapidarium. Projiziert wird auf eine riesige Hauswand. Die Nacht ist warm, alle Stühle, Bänke und Geländer sind belegt. Am Festivalzelt gibt es Rot- und Weißwein, verschiedene Käsehäppchen, Erdbeeren, Trauben und eine gesalzene Nuss-Mandelmischung. Ich spezialisiere mich auf Mandeln.
Am zweiten Tag besuche ich die zum Festival gehörende Videoausstellung in einem alten römischen Bad – the Ancient Bath. Im Anschluss ein kleines Gespräch mit der Leiterin, die mir wenig später einen Typen vorstellt, der gerade nichts zu tun hat und bereit ist, mich zu dem nettesten Café der Altstadt zu geleiten. Das Café ist eher eine Bar. Aus einer Lautsprecherbox ertönen Elektro-80s wie Dead or Alive „You Spin Me Round (Like a Record)“, auf dem Fernseher hinter der Theke läuft VH1-Classic: „She’s Like The Wind“ gefolgt von „Died In Your Arms Tonight“. Ich frage mich, warum mir bisher ausschließlich Musik der Achtziger und Neunziger begegnet ist – nicht ein neuerer Song. Ich denke an Marlene, ist die Zeit hier tatsächlich noch nicht so fortgeschritten, oder mag ein Großteil der Bevölkerung einfach nur bzw. ausschließlich jene Musik? Ich frage meine Begleitung, er versteht nicht, ich frage nicht weiter nach. Zweite Vorführung, die Nacht ist sternenklar, plötzlich erscheint am Himmel ein großes, flackernd orange leuchtendes Objekt. Es bewegt sich mit der Geschwindigkeit eines Verkehrsflugzeuges, ist jedoch viel zu groß dafür. Auch ein Papierballon kann es keinesfalls sein. Ich denke an „Melancholia“. Sekunden später verschwindet das Objekt hinter der Fassade eines Hauses. Meine Sitznachbarin und ich sind verwirrt, ja sogar verängstigt. Sonst hat es scheinbar niemand bemerkt. Diesmal sind die Gespräche am Ende des Programms nicht so lang und ich ziemlich müde, das passt. Evelyn begleitet mich noch in mein Apartment um mir eine Decke und das W-LAN-Passwort zu geben. Gute Nacht. Das Bett ist bequem, ich schlafe gut, wache trotzdem auf. Von unten ist ein Rütteln zu hören – die Haustür. Nach wenigen Minuten Stille wieder Geräusche, ein Öffnen? Ich hole aus der Küche ein Messer, gehe langsam die Treppe hinunter, es ist dunkel und still, öffne langsam die Tür – Nichts. OK, nun ja, gut. Es ist immer noch recht warm, die wenigen Laternen tauchen die grobe Natursteinstraße vor mir in ein fast allzu märchenhaftes Licht. Ich beschließe noch ein wenig umherzulaufen. Die Gassen werden enger, dunkler und erwecken zunehmend einen noch verträumteren Anschein. Die Fassaden wirken bald sonderbar mysteriös, ja verwunschen unheimlich. Im Dunkel, einige Entfernung vor mir, bemerke ich eine Bewegung. Ich bleibe stehen, schaue nochmal genauer hin, erkenne aber nichts. Hinter dem nächsten Haus biege ich rechts ab, laufe noch einige Schritte weiter und sehe dann in weiter Entfernung tausende kleine Lichtpunkte, einige davon bewegen sich. Direkt vor mir jedoch ein Schwarz, dass nur langsam Zeichnung animmt. Minuten später erst bemerke ich das antike Theater direkt unter mir, doch meine Faszination wird jäh unterbrochen, als plötzlich Schritte zu hören sind. Sie kommen immer näher. Dann plötzlich ein Kopf. Er kommt direkt auf mich zu. Erst in unmittelbarer Nähe erkenne ich die Gesichtszüge der vollkommen in Schwarz gekleideten Frau. Es ist Steffi, sie saß vor wenigen Stunden neben mir, da sprachen wir über „Das Ende Der Welt, Wie Wir Sie Kennen“. Mit Erleichterung und der Freude über die Überraschung will ich sie umarmen, da bemerkt Sie, und dann auch ich, das Messer in meiner rechten Hand. Ich lasse es fallen, sie hebt es sofort auf und rammt es mit voller Wucht in mein Herz. Also wache ich auf und empfinde die selbe Erleichterung, wie noch Minuten zuvor im Traum. Bevor ich erneut einschlafe schaue ich noch mal bei Google vorbei – Begriff: Komet. Alle Bilder jeweils mit Schweif. Das Objekt am Himmel beim Filmprogramm hatte keinen. Fragezeichen.
In den folgenden Tagen schaue ich mir die Stadt an. Ich schlendere durch die engen Gassen der ach so pittoresken Altstadt und die weiten Straßen des Zentrums. Die Sonne sorgt für Temperaturen um die 33°C. „Plovdiv ist eine Reise wert.“ Jeden Abend vor Sonnenuntergang laufe ich zu dem, auf einem der vielen Hügel gelegenen, Amphitheater. Von dort schaue ich der Stadt im Tal, den Proben einer Tanzaufführung direkt vor mir, als auch der sich langsam hinter den Bergen versteckenden Sonne zu. Nach dem Festivalscreening am Samstag zeigen mir Evelyn, Steffi und einige Andere die Stadt bei Nacht. Auf dem Weg zu diversen Tanzlokalen kommen wir an einer Felswand vorbei – ganz oben ein illuminierter Schriftzug: PLOVEDIV – LOVE in Pink. Ja, ich mache ein Foto. Die Nacht endet in einer Eck-Bar, die uns mit „Dancing With Tears In My Eyes“ begrüßt, „Don’t You Want Me“ ablenkt und „Sweet Dreams“ verabschiedet.
Den letzten Tag und Details zum Rückflug lasse ich aus, die Länge des Berichtes steht nicht mehr im Verhältnis zum Sinn dessen. Fazit: Plovdiv ist schön, nett und bezahlbar. Wer experimentelle Filme und warme Septembernächte schätzt, wird das Festival mögen und wer Musik der 80er und 90er liebt vielleicht nicht mehr weg wollen.
Wenn „der Zeit hinterher sein“ auch bedeutet, weniger festgefahren zu sein und dabei Entwicklungen von Neuem, Alternativen begünstigter sind, so könne dies in einem anderen, womöglich gar relevanteren Sinne auch als „Fortschritt“ im ewigen „Auf und Ab“ betrachtet werden. Letztendlich ist es dann tatsächlich wohl so, dass Offenheit gegenüber Anderem umgekehrt proportional zum Entwicklungsstand der eigenen Festigung steht – Westeuropa ist zu weit …
Vienna Independent Shorts 28.5.-2.6.2010 Bericht von Nicolaas Schmidt (SENSE+INNOCENCE)
Bericht über Empfindungen und Erlebnisse während der letzten drei Tage des Mai 2010
VIS – sechs Tage, 33 Kurzspiel- und Kurzdokumentarfilme, 38 Animations- und Experimentalfilme, 26 österreichische Produktionen, diverse Sonderprogramme, Party. Eine Woche vor Festivalbeginn plötzlich ein Terminproblem – ich trage keine Schuld. Es stellt sich heraus, dass ich erst später fahren und nur ein bis maximal zwei Tage fernbleiben kann. Wird sich die Fahrt dann lohnen? Es folgen sieben Tage quälende Entscheidungsunfähigkeit. Das Festival bzw. die Reise an sich wird sich auch nur als funktionierende Ablenkungsmöglichkeit herausstellen. Ich schaffe es trotzdem die Reise anzutreten.
29. Mai 2010, 19.43 Uhr: Ich fahre mit der Bahn von Hamburg nach Wien. Zeitpunkt und Orte sind ohne Belang. Nichts tun genießen können – ohne schlechtes Gewissen. 14 Stunden hin, 32 Stunden dort, 14 Stunden zurück. Dann wieder ein bis zwei Tage eine neue alte Heimat. Das sind vier Vorfreuden innerhalb kürzester Zeit. Nach der Reise muss es mir dann wieder schlecht gehen.
Hab die Tasche trotzdem voll gepackt mit Sachen gegen eine nicht eintreten werdende Langeweile – vier Bücher, 74 GB Musik und Filme, diverse Texte und ein Notizbuch mit Bemerkungen und Projekten die auf Ergänzung, Sortierung, Priorisierung und Verknüpfung warten – vergeblich. Im Abteil ist es sehr warm und stickig. Nur an den Fensterplätzen kommt ein wenig ebenso warme Luft aus den Schlitzen der Klimaanlage. Ich sitze an der Tür, keiner mag tauschen. Auch im Gang ist es nicht auszuhalten. Zweifel – ist die Klimaanlage defekt oder ich. Der Schaffner findet für mich ein leeres Abteil.
Dort setze ich mich ans Fenster – nicht viel besser. Ich stecke ein A4 Blatt in den Lüftungsschlitz und falte es so, dass mir der geringe Luftstrom direkt ins Gesicht bläst. Ich lese, höre Musik. 3.54 Uhr: Bin entspannt wie lange nicht. Könnte noch sechs Stunden schlafen, oder besser noch, dämmern im Halbschlaf. 6.13: Werde von Polizisten unsanft und unhöflich geweckt – Ausweiskontrolle. Schlafe trotzdem wieder ein. 7.36: Zum Glück erneute Kontrolle, diesmal höflicher. Ich bin gut gelaunt, der Tag beginnt. Ich filme den Sonnenaufgang und schaffe es gar, mir ein klein wenig einzureden, dass der eingeladene Film bzw. meine Anwesenheit von Belang sein könnte.
Ankunft: Kaffee, Kuchen und Gespräche im Festivalbüro. Das Programm, in welchem mein Beitrag läuft beginnt. Viele Leute, gemütliche Atmosphäre. Nach dem Film einige Fragen kurz und nicht zu detailliert beantwortet. Ich hoffe ein wenig auf gute, vielleicht etwas tiefere, Einzelgespräche im Anschluss – Enttäuschung. Schaue einige Filme auf der Monitorstation an, die im Festivaltreffraum steht.
Am Abend treffe ich mich mit meinen Übernachtungsgastgebern – ein sehr nettes, junges Paar. Wir schauen uns zwei Programmblöcke an. Im Anschluss wollte ich eigentlich auf eine Informationsveranstaltung mit Partycharakter, doch ich bin zu müde und nicht in geringster Stimmung dafür – die Beiden erinnern mich doch sehr an meine letzte Beziehung. Angekommen in ihrer Wohnung verstärkt sich dieses Gefühl. Wir schauen uns auf DVD einen Auftritt von Alf Poier an und gehen schlafen.
Nächster Tag. Ich bin allein und lese bis vier Uhr nachmittags in einem Buch meines Gastgebers. Dann packe ich meine Sachen und geh nochmals ins Festivalbüro – die Programme beginnen erst 19 Uhr, 20 Uhr fährt meine Bahn. Ich schaue mir fast alle Filme auf dem Monitor von Festplatte an, Verabschiedung und wieder zurück zum Bahnhof. Während der Fahrt konkretisieren sich Ideen und Texte für einen neuen Film. Es wird ein Reisefilm, inspiriert von den großen Themen Vorfreude und Hoffnung, Glück und Illusion bzw. von Relativität an sich. Der Titel wird lauten „Sagt mir doch bitte wenigstens, dass dieser Film Scheiße ist“ oder vielleicht „Die Reise mit der Eisenbahn hat sich durchaus ein wenig gelohnt“ – die Bilder dafür hatte ich auf der Hinfahrt aufgenommen.
In der Hoffnung, ich könne mich um diesen Bericht drücken, vergehen zunächst sieben Wochen. Der Neue Film hat Version 1.2.1 erreicht – könnte gezeigt werden. Gestern dann doch noch der auffordernde Wunsch nach einem Reiseprotokoll mit dem Hinweis einer Veröffentlichung im Web. Wahrnehmung find ich nicht so gut und nichts liegt mir ferner als wörtliche Kommunikation mit ihren permanenten Missverständnissen. Wozu mache ich Filme? Es hilft mal wieder nichts…